D. Lehnert (Hrsg.): Kommunaler Liberalismus

Cover
Titel
Kommunaler Liberalismus in Europa. Großstadtprofile um 1900


Herausgeber
Lehnert, Detlef
Reihe
Historische Demokratieforschung 6
Erschienen
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schäfer, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Der vorliegende Band vereint zwei allgemeine Beiträge und neun Einzelfall- beziehungsweise vergleichende Lokalstudien zu einem schwer zu greifenden Gegenstand: dem kommunalen Liberalismus. Der Fokus der Betrachtung liegt – trotz des Titels – auf dem deutschsprachigen Raum. Behandelt werden die Städte Berlin, Wien, Köln, Frankfurt am Main, München, Dresden, Basel und Straßburg (sowie ergänzend in der Einleitung des Herausgebers: Leipzig, Breslau und Prag). Der europäische Vergleich ist mit Budapest, London und Paris dagegen etwas dünn ausgefallen. Dazu kommt noch ein außereuropäischer Schwenk nach Osaka in Japan.

Ein Leitthema des Bandes rekurriert auf die Ambivalenz des kommunalen Liberalismus der Jahrhundertwende. Auf der einen Seite steht eine Lesart, die das Bild des deutschen Liberalismus im Kaiserreich als einer im Niedergang befindlichen Bewegung – politisch unfruchtbar, reformunwillig, von staatlicher Gestaltungsmacht ferngehalten – durch den Verweis auf die Ebene der städtischen Selbstverwaltung zu revidieren sucht. Hier habe sich um 1900 ein reformbereiter, sozialpolitisch aktiver Liberalismus formiert, der den Auf- und Ausbau der städtischen Daseinsvorsorge vorantrieb und sich auch einer Kooperation mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung öffnete. Auf der anderen Seite erschien diese Renaissance der Liberalen nur möglich unter reichlich undemokratischen Rahmenbedingungen: kommunale Bürger- und Wahlrechte, die die bürgerlichen Trägergruppen des Liberalismus mehr oder minder massiv begünstigten und größere Teile der Einwohner stark benachteiligten oder ganz von der Partizipation an der städtischen Selbstverwaltung ausschlossen.

Die meisten Beiträge des Bandes rekurrieren auf Befunde der Sekundärliteratur beziehungsweise präsentieren einen Digest aus eigenen, zum Teil schon etwas angejahrten Monographien.1 Daher kann man sich fragen, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, die Befunde stärker zu synthetisieren und zu systematisieren statt eine größere Zahl von Autoren detailreiche Einzelfallstudien, zum Teil mit unterschiedlicher thematischer Fokussierung liefern zu lassen. Die Beiträge bieten im Einzelnen durchaus viele interessante und aufschlussreiche Überlegungen, Befunde und Ergebnisse. Insgesamt hinterlässt das Buch aber einen etwas diffusen Eindruck. Dies dürfte nicht zuletzt an der Themenstellung selbst liegen, denn bei näherem Hinsehen verliert der „Kommunale Liberalismus“ seine Konturen als Gegenstand der Betrachtung. Wie „liberal“ waren denn eigentlich die Akteure, die in den Großstädten der Jahrhundertwende als Protagonisten der kommunalen Daseinsvorsorge auftraten? Lehnert argumentiert in der Einleitung, dass die leitenden Kommunalpolitiker des späten Kaiserreichs zwar darauf achteten, nicht als „Parteileute“ aufzutreten. Doch seien solche primär taktisch bestimmten Erklärungen nicht beim Wort zu nehmen. Dies würde die Bindungen dieser Akteure an den Liberalismus und die Rolle organisierter politischer Kräfte in den Städten der Jahrhundertwende überhaupt verkennen (S. 34).

Dagegen finden sich im zweiten einführenden Beitrag, dem von Dieter Langewiesche, mindestens zwei gewichtige Argumente, die diese Schlussfolgerung fragwürdig erscheinen lassen. Zum einen verweist Langewiesche auf das quasikonstitutionelle System der deutschen Stadtverfassungen, in dem auch die nominell liberalen Oberbürgermeister und professionellen Stadträte als ziemlich illiberale Verwaltungschefs agierten, die sich so weit wie möglich der Kontrolle und dem Mitgestaltungsanspruch der gewählten Bürgervertreter zu entziehen suchten. Den Kommunalliberalismus könne man daher wohl kaum zum Protagonisten eines „funktionierenden Parlamentarismus“2 machen. Zum anderen sei es nicht sinnvoll, im konfliktreichen Aufbau einer städtischen Daseinsvorsorge nach einer kommunalliberalen Generallinie zu fragen (S. 58f.). Wenn demnach die Liberalen in einer Stadt eine „munizipalsozialistische“ Agenda verfolgten, in der Nachbarstadt aber möglicherweise die gleichen Maßnahmen tunlichst zu verhindern trachteten – welchen Sinn hat es dann überhaupt, den „Kommunalen Liberalismus“ als treibende Kraft beim Aufbau einer städtischen Daseinsvorsorge zu präsentieren?

In einigen Beiträgen verschiebt sich denn auch der Fokus der Betrachtung und Beurteilung von den Liberalen als politischer Bewegung zu „liberalen“, „bürgerlichen“, „zivilgesellschaftlichen“ Modi politischer Kommunikation und Praxis im städtischen Raum. So verweist Langewiesche auf vielfältige Formen demokratischer Bürgerbeteiligung in den deutschen Städten des ausgehenden 19. Jahrhunderts (S. 46). Hideto Hiramatsu wertet die Rezeption des Elberfelder Modells der Armenpflege in japanischen Städten als Zeichen bürgerlich-zivilen Selbstverständnis in den städtischen Mittelklassen (S. 142f.). Für Basel konstatiert Georg Kreis, es sei ihm nur in beschränktem Maße gelungen, einen kommunalen Liberalismus zu identifizieren. Prägender als der Liberalismus einer einzelnen Partei sei in der Schweizer Stadt der Liberalismus des politischen Systems gewesen, der alle kommunalpolitisch aktiven Kräfte veranlasste, nach liberalen Regeln zu agieren (S. 237f.). Diese Autoren nehmen hier gewissermaßen spontan eine Korrektur der Themenstellung des Bandes vor. Die Großstadt um 1900 als Raum demokratischer Bewegungen und demokratischer Praxisformen scheint auch mir für die historische Demokratieforschung ein sinnvollerer heuristischer Zugang zu sein als der Blick auf einen Kommunalen Liberalismus, der sich vielerorts als Chimäre erweisen könnte.

Anmerkungen:
1 Detlef Lehnert, Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994; Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der städtischen Gesellschaft zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914, München 1996; Karl Heinrich Pohl, Die Münchener Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschafte, Staat und Gesellschaft in München 1890–1914, München 1992.
2 Karl Heinrich Pohl, Der Liberalismus im Kaiserreich, in: Rüdiger vom Bruch (Hrsg.), Friedrich Naumann und seine Zeit, Berlin 2000, S. 65–90, hier: S. 82.

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